In der Lehrveranstaltung zu Philip K. Dick haben wir erfahren, dass dieser sehr oft mit Gegensatzpaaren operiert. Hier möchte ich nun den Gegensatzpaaren, die in Beyond Lies the Wub zum Tragen kommen, untersuchen.
Bevor ich mich jedoch der Kurzgeschichte selbst zuwende, werde ich einige Gegensatzpaare skizzieren, die in der Beschäftigung mit Kannibalismus entwickelt wurden, und die meiner Ansicht nach für eine Analyse der Geschichte sehr hilfreich sind.
In der ethnozentrischen Vorstellung der Antike befindet sich die zivilisierte Hochkultur im Zentrum der Erdscheibe, zu deren Rändern hin die Kulturen immer primitver sind. Herodot beschreibt ein Nomadenvolk – das Volk der von ihm als Androphagen betitelten-, das am Rande der Erdscheibe in einer Gegend, die von wilden Tieren dominiert wird, beheimatet ist und Menschenfleisch verzehrt (vgl. Moser 2005, S 8f.). Neben dem offensichtlichen Gegensatz zwischen Kultur und Primitivität, der auf einer geografischen Ebene fließend ist, halte ich einen anderen Aspekt dieser Vorstellung für sehr interessant: Die geografische Verortung spiegelt eine zeitliche Entwicklung wider, auf der die Androphagen „die Schwelle zwischen Animalität und Humanität“ markieren, und ihr „praktizierter Kannibalismus […] auf den Nullzustand menschlicher Kultur“ (ebd., S. 9) verweist. In der Betrachtung dieser antiken Vorstellung ist also auch der Gegensatz zwischen Animalität und Humanität wesentlich.
Mit der Entdeckung Amerikas veränderte sich dieses ethnozentrische Weltbild, und die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur begann zu bröckeln. Bereits im 16. Jahrhundert beschreibt Montaigne den Unterschied zwischen den Europäern und den amerikanischen Ureinwohnern als eine „leichter zu überbrückende Kluft zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen“ (ebd., S. 14). Lévi-Strauss ordnet diese verschiedenen Kulturen später den Bereichen Anthropophagie und Anthropemie zu; ein Begriffspaar, das dem der Abgrenzung und Entgrenzung gleicht, das im einführenden Eintrag dieses Blogs verwendet wird. Anthropophagie meint hierbei die „Einverleibung gewisser Individuen, die furchterregende Kräfte besitzen, [als] das einzige Mittel [zu] sehen, diese zu neutralisieren oder gar zu nutzen“, Anthropemie „die umgekehrte Lösung […], nämlich jene gefährlichen Individuen aus dem sozialen Körper auszustoßen und sie […] in eigens für diesen Zweck bestimmten Einrichtungen zu isolieren“ (zit. nach ebd., S. 15).
Ausgehend von dieser Überlegung etabliert er auch eine Unterscheidung auf der Handelsebene: die zwischen Gabentausch und Warenkapitalismus (vgl. ebd., S. 17). In der anthropophagischen Gesellschaft wird mittels des „Tauschs von Gaben und Leistungen […] das Individuum in das Netzwerk der sozialen Beziehungen eingebunden“ (ebd., S. 16), während in anthropemischen Gesellschaften „die Tauschobjekte wie auch die am Tausch beteiligten Individuen verdinglicht [werden] und somit das Netzwerk sozialer Beziehungen zerstört, zugleich aber die totale Aneignung von Personen und Gütern allererst ermöglicht“ (ebd., S. 17) wird. Durch diese Erkenntnis wird allerdings auch die krasse Gegensätzlichkeit des Begriffspaares aufgebrochen, denn- wie Moser anmerkt – „es zeigt sich, daß auch die europäischen Gesellschaften einen anthropophagischen Charakter besitzen, ja, daß sie sogar eine besonders radikale Form der Einverleibung betreiben, während die indianischen Kulturen ihre Mitglieder zwar in das Netzwerk der sozialen Beziehungen einzubinden suchen, dabei aber auf ihre totale Assimilation verzichten“ (ebd., S. 19). Die radikale Form der Einverleibung in europäischen System beruht auf dem Warenkapitalismus und dem daraus resultieren Warencharakter von Individuen. Dadurch wird „auf der einen Seite […] die Möglichkeit [geschaffen], sich ihrer rückhaltlos zu entäußern, um sie auf der anderen Seite desto intensiver aneignen und unterwerfen zu können“.
Auch Philip K. Dick operiert in seiner Kurzgeschichte Beyond Lies the Wub mit ähnlichen Gegensatzpaaren, allerdings in gebrochener Form, also die totale Opposition von diesen negierend.
Das Wub sieht aus wie ein Schwein – Franco vergleicht es mit „dirty razorback hogs“ (Dick 1999, S. 33) –, wird mit dem überwiegend auf Dinge bezogenen Personalpronomen „it“ (u.a. ebd., S. 27) betitelt und vom Koch als „this thing“ (S. 29) bezeichnet. Die Mitglieder der Crew tragen dagegen Eigennamen und Titel und sind technisch so fortgeschritten, dass sie durch den Weltraum reisen können – sie nutzen also Werkzeuge. Rein äußerlich betrachtet handelt es sich also hier um eine klare Opposition zwischen Animalität und Humanität.
Gebrochen wird diese allerdings, als das Wub mit den Crewmitgliedern zu kommunizieren beginnt. Das Wub offenbart ein semantisches Verständnis von Sprache („I studied the […] semantic warehouse“, ebd., S. 30), Wissen über Konzepte des sozialen Zusammenlebens („principles of democracy“, ebd.) und Religion („We’re very catholic. Tolereant, eclectic, catholic“, ebd.) und eine gemeinsame mythologische Basis – „the mythology of most self-conscious races“ (ebd., S. 31), wie das Wub selbst es formuliert. Das Wub bringt es in eigenen Worten auf den Punkt: „I am a sensible being like yourself“ (ebd., S. 32). In seinem Denken offenbart es also viele Attribute, die eher menschlich als tierisch sind.
Auch die Ernährungsgewohnheiten des Wub widersprechen der Vorstellung vom Tierischen und Wilden. Es ernährt sich von Pflanzen und Gemüse und erklärt: „We live and let live“ (ebd., S. 30) und „I am against the idea of hurting“ (ebd., S. 32).
Diese im Wub manifestierte Opposition zwischen dem tierischen Äußeren und dem menschlichen Inneren sorgt für einen Konflikt unter den Crewmitgliedern: Captain Franco reduziert das Wub auf dessen Äußeres und rechtfertigt dadurch seinen Wunsch, es zu verspeisen, während Peterson in klare Opposition zu ihm geht und diesen unter Bezug auf das Innere des Wub („It was talking to me about myths, ebd.) davon abzuhalten versucht, das Wub zu töten. Die anderen Crewmitglieder sind eher gespalten. Sie widersetzen sich der Tötung des Wub nicht, geben – wie French – sogar noch Tipps, wie dieses am besten zu töten sei („Try to hit the brain“, ebd.), wollen aber der Tötung selbst nicht beiwohnen und finden schließlich auch kein Vergnügen daran, den Körper des Wub zu verspeisen.
Die angesprochene Verdinglichung des Wub offenbart einen weiteren Punkt. Noch ehe die Crew das Wub physisch einverleiben will, wird es durch Handel einverleibt. Die Einheimischen des Planeten sind offenbar mit dem Konzept des Warenkapitalismus vertraut, und so verkaufen sie das Wub an Peterson. „I got it from a native for fifty cents,“ (ebd., S. 28) sagt dieser, und Jones erklärt: „It belongs to him“ (ebd.). Hier offenbart sich also einerseits der anthropemische Charakter des Warenhandels – das Wub wird durch die Einheimischen veräußert -, andererseits der anthropophagische Charakter desselben – Petersen eignet sich das Wub an. Das Wub wird zu einer Ware. Anders ausgedrückt ist die Verbindung zwischen dem Wub und Peteren zunächst eine geschäftliche.
Das Wub versucht, diesem ihm zugeordneten Warencharakter loszuwerden. Zunächst bezieht es sich auf das Konzept der Demokratie und den damit verbundenen Ideen der individuellen Freiheit und der Gleichheit. Es fordert dazu auf, ein gerechteres System bei der Wahl des zu Verspeisenden anzuwenden, oder genauer ausgedrückt: ein System, bei dem jeder in dieser Frage gleich bewertet wird. Es fragt: „But wouldn’t it be more in accord with your principles of democracy if we all drew straws, or something along that line? After all, democracy is to protect the minority from just such infringements.“ (ebd., S. 30f.) Das Wub betrachtet sich also als Minderheit an Bord, nach demokratischem Verständnis aber auch als gleichwertig mit den Crewmitgliedern, und fordert eine Gleichbehandlung als demokratisches Prinzip ein.
Da es aber nicht als gleichwertige Person akzeptiert wird, versucht es, anhand des Mythos vom Odysseus einen Diskurs über Individualität und Kollektiv zu eröffnen. Es beschreibt seine eigene Interpretation dieses Mythos: „As I interpret it, Odysseus wanders as an individual aware of himself. This is the idea of seperation.“ (ebd., S. 31)
Der Bezug zu Odysseus in der Kurzgeschichte ist in mehrerer Hinsicht interessant: Zum einen begegnet Odysseus in einer der bekanntesten Episoden den kannibalischen Zyklopen, zum anderen lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Schiffskapitän Odysseus und dem Raumschiff-Kapitän Franco herstellen.
Zunächst ist der Verweis auf Odysseus auch ein Verweis auf die Vorstellungen der Antike. Wie oben erwähnt dominiert zu der Zeit die Vorstellung des Ethnozentrismus. Aber auch eine andere verbreitete Vorstellung dieser Zeit, die in der Zyklopen-Episode zum Vorschein kommt, ist im Hinblick auf das Kannibalismus-Thema in Dicks Kurzgeschichte meiner Ansicht nach wesentlich: Denn im Gegensatz zu Lévi-Strauss, der gerade den anthropophagischen Gesellschaften das Wesen des Tauschhandels zuschreibt, wird ihnen in der Antike genau das abgesprochen. Moser schreibt, dass „zum Kernbestand dieser Auffassung […] die Vorstellung [gehört], daß der Kannibale nicht dazu fähig sei, Tauschbeziehungen mit anderen Individuen einzurichten“ (Moser 2005, S. 17). Der Zyklop Polyphem, dem Odysseus begegnet, ist nicht gewillt, Wein von Odysseus als Gastgeschenk anzunehmen. Stattdessen gibt er Odysseus zu verstehen, dass er ihn essen werde und sagt: „Das soll dein Gastgeschenk sein“ (zit. nach ebd., S. 18). Der Kannibale ist nicht bereit, Konsumverzicht zu leisten. Eli Sagan formuliert dies folgendermaßen: „The cannibal is like that economic society that consumes every year all that it produces: it saves nothing. […] When a cannibal has a need for power, he must go out and supply that need in an immediate way“ (zit. nach ebd.).
Insofern ist Captain Franco in diesem Fall dem Kannibalen näher als Odysseus, der die gleiche Stellung innehat wie er. Zwar findet an Bord des Raumschiffes Vorratshaltung statt, aber nur auf so kurze Sicht, dass er der Ansicht ist, dass es unumgänglich ist, das Wub zu essen. Er sagt: „We will be hard put to find something to eat for the next month“ (Dick 1999, S. 30). Außerdem hat der den Drang, das Wub sofort zu verspeisen, er ist also – in den Worten des Wub – „obsessed with the idea of eating me“ (ebd., S. 31). Auch Franco ist nicht zum Konsumverzicht bereit.
An dieser Stelle möchte ich zurück zum Begriffspaar Individuum und Kollektiv kommen, das das Wub durch seinen Exkurs zu Odysseus anspricht. Das Wub betrachtet die Reise des Odysseus und dessen daraus resultierende Trennung von seiner Familie und seinem Heimatland, also die Trennung vom Kollektiv als „process of individuation“ und als „journey of the soul“ (ebd.). Die temporäre Trennung vom Kollektiv dient also als individuelle Weiterentwicklung. Als diese erfolgt ist, kehrt Odysseus wieder heim ins Kollektiv.
Franco ist auch getrennt von der Heimat. Allerdings kann das Wub bei ihm keine Weiterentwicklung feststellen. Im Gespräch mit ihm prallen alle Argumente des Wub an ihm ab, und er lässt keinerlei Bereitschaft erkennen, seine Ansichten zu ändern oder auch nur den Ansichten des Wub richtig zuhören. Diese Verweigerungshaltung jeglicher Entwicklung wird durch das Einfrieren Francos versinnbildlicht, als er das Gespräch zwischen beiden beendet und das Wub zum Gehen auffordert.
Am Bord des Schiffes ist es Franco selbst, der durch die Machtstrukturen, die dort vorherrschen, das Kollektiv verkörpert. Demokratische Prinzipien gelten nicht, die Aufforderung des Wub, doch Wahlen darüber abzuhalten, ob es verspeist werden soll, kontert er mit einem lapidaren „Nuts to you“ (ebd.). Auch das kapitalistische Prinzip des Individualbesitzes lässt Franco nicht gelten. Petersens Einwand gegen das Töten des Wub mit dem Argument „it’s still mine. You have no right to shoot it. It doesn’t belong to you“ (ebd., S. 32) ignoriert er einfach.
Franco verhält sich also auf vielfältige Weise anthropophagisch: Er verleibt sich die Crew-Mitglieder ein, und auch deren Besitz, er ist nicht bereit zum Konsumverzicht, und schließlich will er sich das Wub, das ja menschliche Attribute besitzt, körperlich einverleiben, indem er es isst.
Während das Wub also äußerlich tierisch und innerlich menschlich ist, verhält das sich bei Franco anders. Äußerlich gehört er klar einer Hochkultur an, die technisch weit entwickelt ist. Das Wub meint dazu bewundernd: „You have done many wonderful things […] – technically, [aber:] Apparently your scientific hierarchy is not equipped to solve moral, ethical -“ (ebd.) Probleme. Innerlich wird Franco also als primitiv, wild, kannibalisch dargestellt.
Und hier offenbart sich der Kniff der Geschichte: Das Wub bietet Franco einen Tauschhandel von Wissen, Philosophie und Kunst an. Dadurch soll ein „lasting contact be established between your people and mine“ (ebd., S. 30), die Tauschbeziehung soll also ein soziales Netzwerk etablieren wie Lévy-Strauss dies für die anthropophagischen Kulturen beschreibt. Franco kann aber aufgrund seiner inneren „Unkultur“ solche nicht-dinglichen Objekte nicht als Tauschobjekte erkennen oder akzeptieren. In dieser Hinsicht nimmt er Zuflucht in „barbaric attitudes“ (ebd.), wie das Wub ihm vorwirft. Franco kann nur auf einer äußerlichen Ebene dingliche Objekte als Waren akzeptieren, die er sich dann einverleibt.
Am Ende vollzieht das Wub daher auch diesen Tauschhandel auf einer äußerlichen Ebene. Franco verweigert den Gedankenaustausch, und das Wub forciert daher den Körperaustausch. Es wechselt in den Körper Francos und verspeist daraufhin seinen ehemaligen Körper, dem nun Franco innewohnt…
…um daraufhin weiter über Odysseus zu reden, der in der Kurzgeschichte äußerlich zwar durch Franco verkörpert wird, der mit ihm die Stellung und den Titel teilt, innerlich aber durch das Wub, das sich auf die Reise begeben hat, um seinen eigenen Individuationsprozess voranzutreiben: „I was curious to see your ship, to learn about you. I suggested to the native-“ (ebd., S. 32).
Andreas Fecher
Dick, P. K. (1999). Beyond Lies the Wub. In: Ders. Beyond Lies the Wub (S. 27 – 33). London: Orion Publishing Group.
Moser, C. (2005). Kannibalistische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis. Bielefeld: Aisthesis Verlag.