Das Wub, Captain Franco & Odysseus

Juni 30, 2009

In der Lehrveranstaltung zu Philip K. Dick haben wir erfahren, dass dieser sehr oft mit Gegensatzpaaren operiert. Hier möchte ich nun den Gegensatzpaaren, die in Beyond Lies the Wub zum Tragen kommen, untersuchen.
Bevor ich mich jedoch der Kurzgeschichte selbst zuwende, werde ich einige Gegensatzpaare skizzieren, die in der Beschäftigung mit Kannibalismus entwickelt wurden, und die meiner Ansicht nach für eine Analyse der Geschichte sehr hilfreich sind.

In der ethnozentrischen Vorstellung der Antike befindet sich die zivilisierte Hochkultur im Zentrum der Erdscheibe, zu deren Rändern hin die Kulturen immer primitver sind. Herodot beschreibt ein Nomadenvolk – das Volk der von ihm als Androphagen betitelten-, das am Rande der Erdscheibe in einer Gegend, die von wilden Tieren dominiert wird, beheimatet ist und Menschenfleisch verzehrt (vgl. Moser 2005, S 8f.). Neben dem offensichtlichen Gegensatz zwischen Kultur und Primitivität, der auf einer geografischen Ebene fließend ist, halte ich einen anderen Aspekt dieser Vorstellung für sehr interessant: Die geografische Verortung spiegelt eine zeitliche Entwicklung wider, auf der die Androphagen „die Schwelle zwischen Animalität und Humanität“ markieren, und ihr „praktizierter Kannibalismus […] auf den Nullzustand menschlicher Kultur“ (ebd., S. 9) verweist. In der Betrachtung dieser antiken Vorstellung ist also auch der Gegensatz zwischen Animalität und Humanität wesentlich.

Mit der Entdeckung Amerikas veränderte sich dieses ethnozentrische Weltbild, und die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur begann zu bröckeln. Bereits im 16. Jahrhundert beschreibt Montaigne den Unterschied zwischen den Europäern und den amerikanischen Ureinwohnern als eine „leichter zu überbrückende Kluft zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen“ (ebd., S. 14). Lévi-Strauss ordnet diese verschiedenen Kulturen später den Bereichen Anthropophagie und Anthropemie zu; ein Begriffspaar, das dem der Abgrenzung und Entgrenzung gleicht, das im einführenden Eintrag dieses Blogs verwendet wird. Anthropophagie meint hierbei die „Einverleibung gewisser Individuen, die furchterregende Kräfte besitzen, [als] das einzige Mittel [zu] sehen, diese zu neutralisieren oder gar zu nutzen“, Anthropemie „die umgekehrte Lösung […], nämlich jene gefährlichen Individuen aus dem sozialen Körper auszustoßen und sie […] in eigens für diesen Zweck bestimmten Einrichtungen zu isolieren“ (zit. nach ebd., S. 15).
Ausgehend von dieser Überlegung etabliert er auch eine Unterscheidung auf der Handelsebene: die zwischen Gabentausch und Warenkapitalismus (vgl. ebd., S. 17). In der anthropophagischen Gesellschaft wird mittels des „Tauschs von Gaben und Leistungen […] das Individuum in das Netzwerk der sozialen Beziehungen eingebunden“ (ebd., S. 16), während in anthropemischen Gesellschaften „die Tauschobjekte wie auch die am Tausch beteiligten Individuen verdinglicht [werden] und somit das Netzwerk sozialer Beziehungen zerstört, zugleich aber die totale Aneignung von Personen und Gütern allererst ermöglicht“ (ebd., S. 17) wird. Durch diese Erkenntnis wird allerdings auch die krasse Gegensätzlichkeit des Begriffspaares aufgebrochen, denn- wie Moser anmerkt – „es zeigt sich, daß auch die europäischen Gesellschaften einen anthropophagischen Charakter besitzen, ja, daß sie sogar eine besonders radikale Form der Einverleibung betreiben, während die indianischen Kulturen ihre Mitglieder zwar in das Netzwerk der sozialen Beziehungen einzubinden suchen, dabei aber auf ihre totale Assimilation verzichten“ (ebd., S. 19). Die radikale Form der Einverleibung in europäischen System beruht auf dem Warenkapitalismus und dem daraus resultieren Warencharakter von Individuen. Dadurch wird „auf der einen Seite […] die Möglichkeit [geschaffen], sich ihrer rückhaltlos zu entäußern, um sie auf der anderen Seite desto intensiver aneignen und unterwerfen zu können“.

Auch Philip K. Dick operiert in seiner Kurzgeschichte Beyond Lies the Wub mit ähnlichen Gegensatzpaaren, allerdings in gebrochener Form, also die totale Opposition von diesen negierend.
Das Wub sieht aus wie ein Schwein – Franco vergleicht es mit „dirty razorback hogs“ (Dick 1999, S. 33) –, wird mit dem überwiegend auf Dinge bezogenen Personalpronomen „it“ (u.a. ebd., S. 27) betitelt und vom Koch als „this thing“ (S. 29) bezeichnet. Die Mitglieder der Crew tragen dagegen Eigennamen und Titel und sind technisch so fortgeschritten, dass sie durch den Weltraum reisen können – sie nutzen also Werkzeuge. Rein äußerlich betrachtet handelt es sich also hier um eine klare Opposition zwischen Animalität und Humanität.
Gebrochen wird diese allerdings, als das Wub mit den Crewmitgliedern zu kommunizieren beginnt. Das Wub offenbart ein semantisches Verständnis von Sprache („I studied the […] semantic warehouse“, ebd., S. 30), Wissen über Konzepte des sozialen Zusammenlebens („principles of democracy“, ebd.) und Religion („We’re very catholic. Tolereant, eclectic, catholic“, ebd.) und eine gemeinsame mythologische Basis – „the mythology of most self-conscious races“ (ebd., S. 31), wie das Wub selbst es formuliert. Das Wub bringt es in eigenen Worten auf den Punkt: „I am a sensible being like yourself“ (ebd., S. 32). In seinem Denken offenbart es also viele Attribute, die eher menschlich als tierisch sind.
Auch die Ernährungsgewohnheiten des Wub widersprechen der Vorstellung vom Tierischen und Wilden. Es ernährt sich von Pflanzen und Gemüse und erklärt: „We live and let live“ (ebd., S. 30) und „I am against the idea of hurting“ (ebd., S. 32).
Diese im Wub manifestierte Opposition zwischen dem tierischen Äußeren und dem menschlichen Inneren sorgt für einen Konflikt unter den Crewmitgliedern: Captain Franco reduziert das Wub auf dessen Äußeres und rechtfertigt dadurch seinen Wunsch, es zu verspeisen, während Peterson in klare Opposition zu ihm geht und diesen unter Bezug auf das Innere des Wub („It was talking to me about myths, ebd.) davon abzuhalten versucht, das Wub zu töten. Die anderen Crewmitglieder sind eher gespalten. Sie widersetzen sich der Tötung des Wub nicht, geben – wie French – sogar noch Tipps, wie dieses am besten zu töten sei („Try to hit the brain“, ebd.), wollen aber der Tötung selbst nicht beiwohnen und finden schließlich auch kein Vergnügen daran, den Körper des Wub zu verspeisen.

Die angesprochene Verdinglichung des Wub offenbart einen weiteren Punkt. Noch ehe die Crew das Wub physisch einverleiben will, wird es durch Handel einverleibt. Die Einheimischen des Planeten sind offenbar mit dem Konzept des Warenkapitalismus vertraut, und so verkaufen sie das Wub an Peterson. „I got it from a native for fifty cents,“ (ebd., S. 28) sagt dieser, und Jones erklärt: „It belongs to him“ (ebd.). Hier offenbart sich also einerseits der anthropemische Charakter des Warenhandels – das Wub wird durch die Einheimischen veräußert -, andererseits der anthropophagische Charakter desselben – Petersen eignet sich das Wub an. Das Wub wird zu einer Ware. Anders ausgedrückt ist die Verbindung zwischen dem Wub und Peteren zunächst eine geschäftliche.
Das Wub versucht, diesem ihm zugeordneten Warencharakter loszuwerden. Zunächst bezieht es sich auf das Konzept der Demokratie und den damit verbundenen Ideen der individuellen Freiheit und der Gleichheit. Es fordert dazu auf, ein gerechteres System bei der Wahl des zu Verspeisenden anzuwenden, oder genauer ausgedrückt: ein System, bei dem jeder in dieser Frage gleich bewertet wird. Es fragt: „But wouldn’t it be more in accord with your principles of democracy if we all drew straws, or something along that line? After all, democracy is to protect the minority from just such infringements.“ (ebd., S. 30f.) Das Wub betrachtet sich also als Minderheit an Bord, nach demokratischem Verständnis aber auch als gleichwertig mit den Crewmitgliedern, und fordert eine Gleichbehandlung als demokratisches Prinzip ein.
Da es aber nicht als gleichwertige Person akzeptiert wird, versucht es, anhand des Mythos vom Odysseus einen Diskurs über Individualität und Kollektiv zu eröffnen. Es beschreibt seine eigene Interpretation dieses Mythos: „As I interpret it, Odysseus wanders as an individual aware of himself. This is the idea of seperation.“ (ebd., S. 31)

Der Bezug zu Odysseus in der Kurzgeschichte ist in mehrerer Hinsicht interessant: Zum einen begegnet Odysseus in einer der bekanntesten Episoden den kannibalischen Zyklopen, zum anderen lässt sich ein Zusammenhang zwischen dem Schiffskapitän Odysseus und dem Raumschiff-Kapitän Franco herstellen.
Zunächst ist der Verweis auf Odysseus auch ein Verweis auf die Vorstellungen der Antike. Wie oben erwähnt dominiert zu der Zeit die Vorstellung des Ethnozentrismus. Aber auch eine andere verbreitete Vorstellung dieser Zeit, die in der Zyklopen-Episode zum Vorschein kommt, ist im Hinblick auf das Kannibalismus-Thema in Dicks Kurzgeschichte meiner Ansicht nach wesentlich: Denn im Gegensatz zu Lévi-Strauss, der gerade den anthropophagischen Gesellschaften das Wesen des Tauschhandels zuschreibt, wird ihnen in der Antike genau das abgesprochen. Moser schreibt, dass „zum Kernbestand dieser Auffassung […] die Vorstellung [gehört], daß der Kannibale nicht dazu fähig sei, Tauschbeziehungen mit anderen Individuen einzurichten“ (Moser 2005, S. 17). Der Zyklop Polyphem, dem Odysseus begegnet, ist nicht gewillt, Wein von Odysseus als Gastgeschenk anzunehmen. Stattdessen gibt er Odysseus zu verstehen, dass er ihn essen werde und sagt: „Das soll dein Gastgeschenk sein“ (zit. nach ebd., S. 18). Der Kannibale ist nicht bereit, Konsumverzicht zu leisten. Eli Sagan formuliert dies folgendermaßen: „The cannibal is like that economic society that consumes every year all that it produces: it saves nothing. […] When a cannibal has a need for power, he must go out and supply that need in an immediate way“ (zit. nach ebd.).
Insofern ist Captain Franco in diesem Fall dem Kannibalen näher als Odysseus, der die gleiche Stellung innehat wie er. Zwar findet an Bord des Raumschiffes Vorratshaltung statt, aber nur auf so kurze Sicht, dass er der Ansicht ist, dass es unumgänglich ist, das Wub zu essen. Er sagt: „We will be hard put to find something to eat for the next month“ (Dick 1999, S. 30). Außerdem hat der den Drang, das Wub sofort zu verspeisen, er ist also – in den Worten des Wub – „obsessed with the idea of eating me“ (ebd., S. 31). Auch Franco ist nicht zum Konsumverzicht bereit.

An dieser Stelle möchte ich zurück zum Begriffspaar Individuum und Kollektiv kommen, das das Wub durch seinen Exkurs zu Odysseus anspricht. Das Wub betrachtet die Reise des Odysseus und dessen daraus resultierende Trennung von seiner Familie und seinem Heimatland, also die Trennung vom Kollektiv als „process of individuation“ und als „journey of the soul“ (ebd.). Die temporäre Trennung vom Kollektiv dient also als individuelle Weiterentwicklung. Als diese erfolgt ist, kehrt Odysseus wieder heim ins Kollektiv.
Franco ist auch getrennt von der Heimat. Allerdings kann das Wub bei ihm keine Weiterentwicklung feststellen. Im Gespräch mit ihm prallen alle Argumente des Wub an ihm ab, und er lässt keinerlei Bereitschaft erkennen, seine Ansichten zu ändern oder auch nur den Ansichten des Wub richtig zuhören. Diese Verweigerungshaltung jeglicher Entwicklung wird durch das Einfrieren Francos versinnbildlicht, als er das Gespräch zwischen beiden beendet und das Wub zum Gehen auffordert.
Am Bord des Schiffes ist es Franco selbst, der durch die Machtstrukturen, die dort vorherrschen, das Kollektiv verkörpert. Demokratische Prinzipien gelten nicht, die Aufforderung des Wub, doch Wahlen darüber abzuhalten, ob es verspeist werden soll, kontert er mit einem lapidaren „Nuts to you“ (ebd.). Auch das kapitalistische Prinzip des Individualbesitzes lässt Franco nicht gelten. Petersens Einwand gegen das Töten des Wub mit dem Argument „it’s still mine. You have no right to shoot it. It doesn’t belong to you“ (ebd., S. 32) ignoriert er einfach.

Franco verhält sich also auf vielfältige Weise anthropophagisch: Er verleibt sich die Crew-Mitglieder ein, und auch deren Besitz, er ist nicht bereit zum Konsumverzicht, und schließlich will er sich das Wub, das ja menschliche Attribute besitzt, körperlich einverleiben, indem er es isst.

Während das Wub also äußerlich tierisch und innerlich menschlich ist, verhält das sich bei Franco anders. Äußerlich gehört er klar einer Hochkultur an, die technisch weit entwickelt ist. Das Wub meint dazu bewundernd: „You have done many wonderful things […] – technically, [aber:] Apparently your scientific hierarchy is not equipped to solve moral, ethical -“ (ebd.) Probleme. Innerlich wird Franco also als primitiv, wild, kannibalisch dargestellt.
Und hier offenbart sich der Kniff der Geschichte: Das Wub bietet Franco einen Tauschhandel von Wissen, Philosophie und Kunst an. Dadurch soll ein „lasting contact be established between your people and mine“ (ebd., S. 30), die Tauschbeziehung soll also ein soziales Netzwerk etablieren wie Lévy-Strauss dies für die anthropophagischen Kulturen beschreibt. Franco kann aber aufgrund seiner inneren „Unkultur“ solche nicht-dinglichen Objekte nicht als Tauschobjekte erkennen oder akzeptieren. In dieser Hinsicht nimmt er Zuflucht in „barbaric attitudes“ (ebd.), wie das Wub ihm vorwirft. Franco kann nur auf einer äußerlichen Ebene dingliche Objekte als Waren akzeptieren, die er sich dann einverleibt.
Am Ende vollzieht das Wub daher auch diesen Tauschhandel auf einer äußerlichen Ebene. Franco verweigert den Gedankenaustausch, und das Wub forciert daher den Körperaustausch. Es wechselt in den Körper Francos und verspeist daraufhin seinen ehemaligen Körper, dem nun Franco innewohnt…

…um daraufhin weiter über Odysseus zu reden, der in der Kurzgeschichte äußerlich zwar durch Franco verkörpert wird, der mit ihm die Stellung und den Titel teilt, innerlich aber durch das Wub, das sich auf die Reise begeben hat, um seinen eigenen Individuationsprozess voranzutreiben: „I was curious to see your ship, to learn about you. I suggested to the native-“ (ebd., S. 32).

Andreas Fecher

Dick, P. K. (1999). Beyond Lies the Wub. In: Ders. Beyond Lies the Wub (S. 27 – 33). London: Orion Publishing Group.

Moser, C. (2005). Kannibalistische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis. Bielefeld: Aisthesis Verlag.

Eintrag 9

Juni 24, 2009

Kannibalismus im Film und Fiktion

Philip K. Dick ist nicht der einzige, und wie bereits festgestellt auch ganz sicher nicht der offensichtlichste Autor der je über das Phänomen des Kannibalismus geschrieben hat. Das Konzept des Menschenessenden Menschen ist ja auch nicht gerade ein neues. Erzählungen solcher gehen Taten sogar viele Jahrhunderte zurück. So schrieb schon Ovid in seinen Metamorphosen wenige Jahre nach Christus „Und wenn du nicht einen andern vertilgst, so kannst du den Hunger deines gefräßigen Bauches nicht dämpfen.“ und Homer kann sich der Faszination der Anthropophagen ebensowenig entziehen wie unsere alten volkstümlichen Märchen, wollte doch eigentlich die Hexe Hänsel und Gretel verspeisen, ehe sie selbst das Opfer der Flammen wurde. Aber nicht nur in der Antike war von derartigen Vorfällen in der Literatur gesprochen, auch andere Schriftsteller, und nach der Erfindung des Kinematographen Regisseure verarbeiteten diesen Stoff in ihrem Werk. Sie gehen dabei unterschiedlich vor und in diesem Artikel soll besonders von zwei Arten des Kannibalismus in Film und Fiktion die Rede sein.

Der Rachekannibalismus wird den Anfang machen. „Die Verspeisung des getöteten Feindes führte wohl zu vollkommener Ahndung im Sinne der Blutrache (…)“ Der Exokannibalimus. Dies ist zum Beispiel der Fall in Ruggero Deodatos höchst umstrittenen Film „Cannibal Holocaust – Ultimo Mondo Cannibale“ von 1979 (Teil der damals sehr beliebten Trash – Kannibalen Filme aus Italien), in dem ein Stamm Kannibalen ein Filmteam, dass ursprünglich eineDokumentation über sie machen sollte, sich aber dann doch lieber auf grausame Art und auf Kosten der Eingeborenen amüsiert, Rache übt. Diese Art von Kannibalismus sind wir in Dicks Geschichten ebenfalls schon begegnet. Interessant ist aber, dass in manchen Texten weniger der Rachenübende der Essende ist, sondern, dass die Rache darin besteht, den Rivalen Menschenfleisch aufzuzwingen, vorzugsweise von jemandem dem das Opfer nahe Stand. In eines von William Shakespeares grausamsten Stücken, rächt sich der Held Titus Andronicus, ein römischer Feldherr (im Film von 1999 übrigens gespielt von Anthony Hopkins, der ja auch den berühmtesten aller Film/ Fiction – Kannibale Hannibal Lector verkörperte), sich für die Vergewaltigung seiner Tochter, in dem er ihre Mörder verkocht und deren Mutter als Versöhnungsmahl ihrer beiden Nationen vorsetzt. Diese Problematik findet man auch in der Episode „Scott Tenorman must die“ aus der Zeichentrickserie „South Park“ in der die Figur Cartmen die Eltern eines anderen Schüler zu Chilli verarbeitet, weil dieser ihn übers Ohr gehauen hat. Die Vorstellung also auf diese Weise Rache zu üben, scheint noch eine Spur befriedigender zu sein, als sich nur mit dem simplen Tod des Opponenten zufrieden zu geben.

Doch Rache zu üben ist nicht der einzige Grund für das einverleiben eines anderen Menschen. Auch ein Gefühl wie Liebe und insbesondere Leidenschaft führt in besonders krassen Fällen zum Kannibalismus. In manchen Kulturen ist oder war es üblich Teile des Körper eines geliebten verstorbenen Menschen als Ritual bei einem Begräbnis zu verzehren. Eine Art „zärtlichen Kannibalismus“. Liebe geht also hier im wahrsten Sinne des Wortes durch den Magen. So sind sämtliche Erzählungen und Darstellungen von Vampiren( angefangen bei Bram Stoker über Anne Rice, bishin zu der im Moment so erfolgreichen Teenagervampirsaga Twiglight), die ja da Blut anderer Menschen trinken, nahezu immer mit einer sexuellen Komponente belegt. Die zumeist männlichen Blutsauger, sei es nun Dracula, Louis oder Edward, werden meist als fremdländisch, von gutem Benehmen und mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft ausgestattet, beschrieben. Der Biss ist weniger ein Biss, als ein sexueller Akt.

In der Realität jedoch hat diese Ausprägung der Anthorpophagie keine so unschuldigen oder romantischen Motive. Vielmehr handelt es sich um eine sexuelle Perversion, „das Verspeisen selbst bekommt dabei eine sexuelle Qualität, ist Bestandteil der sexuellen Erfüllung“. Die Einverleibung führt also zu einer Annäherung die auf „normalem“ Wege nie erreicht werden könnte. Hinzu kommt der Gedanke, das man sich durch das menschliche Mahl auch die Fähigkeiten, gar die Identität des Opfers zu Eigen machen kann. Dieses Motiv gab auch Armin M. an, über dessen Tat der Film „Rohtenburg“ (2006) gedreht wurde, der nun doch in die deutschen Kinos kommen soll.

Zum dem Thema Sex-Kannibalismus, gab es in 70er Jahren, hauptsächlich aus italienischer Produktion auch eine ganze Reihe von Filmen mit Titeln wie „Nackt unter Kannibalen“ ( Emanuelle e gli ultimi Cannibali, 1977) oder „Jungfrau unter Kannibalen“ (El Canible, 1980) in denen „Angst und Lust (…) gewissermaßen einen emotionalen Kurzschluss auslösen“ deren Zweck es schein immer neue Grausamkeiten vorzuführen.

Im allgemeinen kann man sagen, das der Kannibalismus in Film und Fiktion oftmals metaphorisch zu sehen sind. Es ist Symbol eines „befremdlichen Begehrens“. Ein Begehren das zuweilen, drastische Ausmaße annimmt, was natürlich den Schauwert nach oben treibt. Letztlich entscheidet selbstverständlich der Leser oder Seher ob er sich dem aussetzten will oder nicht. Wer sich gegen zu explizite Darstellungen eines „menschlichen Mahls entscheidet, dem sei Philip K. Dick angeraten.

Ovid, Metamorphosen, in: Spiel, Christian, Menschen essen Menschen, München, 1972, S. 11

Spiel, Christian, Menschen essen Menschen, München, 1972, S. 136

X-Episodes. Com, 2008

http://www.xepisodes.com/episodes/501/Scott-Tenorman-Must-Die.html, zugegriffen am 22.6.2009

Saimeh, Nahlah, Zum Fressen Gern – Kannibalismus aus psychiatrischer Sicht,

http://www.3sat.de/delta/pdf/saimeh.pdf

Saimeh, Nahlah, Zum Fressen Gern – Kannibalismus aus psychiatrischer Sicht,

http://www.3sat.de/delta/pdf/saimeh.pdf

Spiel, Christian, Menschen essen Menschen, München, 1972, S. 62

Seeßlen, Georg/ Jung, Fernad, Horror – Geschichte und Mythologie des Horrorfilms, Marburg, 2006,

S. 448 f

Werner, Hendrick, Kannibalismus – Warum fasziniert uns Hannibal Lector?, 2007, in: www. welt.de

http://www.welt.de/kultur/article718027/Warum_fasziniert_uns_Hannibal_Lecter.html, zugriffen am 22.6.2009

Eintrag 8

Juni 21, 2009

Kannibalismus in der Tierwelt

Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema „Kannibalismus und Philip K. Dicks Medien“ liegt es nahe, sich ganz allgemein mit Kannibalismus in der Tierwelt auseinanderzusetzen.

Denn bis in die Hälfte des 20. Jahrhunderts hielten Forscher das Phänomen Kannibalismus für eine absolute Ausnahme in der Tierwelt, vielmehr für eine selten auftretende, krankhafte Abnorm. Nach dem heutigen Stand der Forschungen ist aufgrund von Studien und Beobachtungen jedoch klar: Kannibalismus in der Tierwelt ist weder besonders selten beobachtbar, noch beschränkt es sich auf bestimmte Tierstämme. So tritt Kannibalismus unter anderem bei Säugetieren auf. Überdies auch bei Affen, den Menschen nächsten Verwandten.1 Die britische Ethologin Jane Goodall beobachtete und erforschte in den sechziger und siebziger Jahren das Leben von wilden Schimpansen in Tansania (Ostafrika). Dabei beobachtet sie Kannibalismus unter den Schimpansen, also das Verzehren von Artgenossen. 2 Eine mögliche Erklärung für diese Verhaltensweise sah die Schimpansenforscherin in einer Form von Machtausübung: so beschrieb sie eine Situation, in welcher eine Schimpansenmutter das Junge einer Schimpansin riss und verspeiste, die in der Herde einen niedrigeren Rang belegte.

Im Gegensatz dazu stehen die zahlreichen Beobachtungen von Kannibalismus, die die eigene Überlebenschance erhöhen: besonders häufig tritt dies in der Geflügelhaltung auf. Die höchste Form der sozialen Aggression, das sogenannte „Federpicken“ und der Kannibalismus begründen sich in den Lebens- und Haltungsbedingungen: zu viele Tiere überbevölkern zu engen Raum. Sind Federpicken und Kannibalismus erst einmal in einem Bestand aufgetreten, vermehren sich die Vorkommnisse und breiten sich aus wie eine Seuche, bedingt durch Stress innerhalb des Bestandes.3

In Philip K. Dicks Medien, die während des Semesters besprochen wurde, geht es ebenso wenig um Kannibalismus im Tierreich wie von Mensch zu Mensch, jedoch ist es ein weiterer Aspekt um über die Gründe nachzudenken, unter welchen Umständen es zu kannibalistischen Handlungen kommen kann. Wie innerhalb des Blogs bereits mehrfach besprochen, kann in Philip K. Dicks Kurzgeschichten „Beyond lies the wub“ und „The Colony“ die Einverleibung eines Lebewesens als Machtausübung und Abgrenzung verstanden werden.

Lautet die Botschaft also, dass es in der Natur von Lebewesen liegt, in extremen Situationen zu noch extremeren Mitteln zu greifen?

Im Tierreich ist der Motivator für Kannibalismus nicht immer nur der Kampf um das blanke Überleben. So verzehren beispielsweise schwarze Witwen oder Gottesanbeterinnen das Männchen nach erfolgreicher Begattung. Und männliche Löwen, die sich in einem neuen Rudel das Oberhaupt gewinnen, fressen die Jungen auf um zu gewährleisten, dass die Weibchen schon bald wieder paarungsbereit sind.4

Die häufigsten Gründe für Kanniblaismus in der Tierwelt stellen also Überbevölkerung, Stress, Erhöhung der eigenen Überlebenschancen und Erhaltung des eigenen Ranges dar. Erkenntnisse, die sich auf die im Blog beschriebenen Kurzgeschichten von Philip K. Dick teilweise sehr wohl übertagen lassen.

Quellen:

http://www.g-o.de/dossier-detail-150-2.html

Striezel, Andreas (Hg.): Leitafden der Nutztiergesundheit. Ganzheitliche Prophylaxe und Therapie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart:2001

Tücke, Manfred: Grundlagen der Psychologie für (zukünftige) Lehrer; Verlag für wissenschaftliche Literatur, Berlin: 2004

http://www.geowissenschaften.de/dossier-detail-150-8.html

2 Tücke, Manfred: Grundlagen der Psychologie für (zukünftige) Lehrer; Verlag für wissenschaftliche Literatur, Berlin: 2004, S. 58 ff

3 Vgl. Striezel, Andreas (Hg.): Leitafden der Nutztiergesundheit. Ganzheitliche Prophylaxe und Therapie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart:2001, S. 212 ff

Eintrag 7

Juni 17, 2009

Autokannibalismus:

„Wir sind alle Kannibalen, wir sind alle keine Menschen mehr, […]“, heißt es in einem Text von Kreisky. In den meisten Kulturkreisen wird Kannibalismus als barbarisch und unmenschlich angesehen. Aber auch Autokannibalismus ist eine Form von Kannibalismus und beschreibt den Verzehr von Teilen des eigenen Körpers. Und es gibt wohl nichts Menschlicheres als Fingernägelkauen? Viele wissen aus ihrer eigenen Erfahrung, dass Nägelkauen sehr schnell ein suchtartiges Verhalten annehmen kann. Man versucht mit Nagellack, Schweinefett und Zwiebelschmiere, dass die Kinder nur ihre Finger heil lassen. Aber bald sind es nicht nur die Nägel, sondern auch die Haut rundherum, die gnadenlos weggeknabbert wird. Nicht selten merkt man dann viel zu spät, dass man an einem bereits blutenden Daumen nagt. Es ist eine Art von Selbstzerstörung, die in verschiedenem Ausmaß unterschiedlich motiviert ist.

Wohl kaum aus Selbsthass handelt die Gemeine Hausspinne (Tegeneria Domestica) die sich ihre Vorderbeine amputiert und verspeist. 1Auch Hühner die zusammen mit ihren 20.000 Artgenossen auf engem Raum leben, fressen wenn sie verletzt sind gelegentlich ihre eigenen Gedärme.

Von ganz anderen Gelüsten motiviert ließen sich im Jahr 2007 zwei Feldwebel in München Blut abnehmen, um es später mit Salz und Speckwürfeln gewürzt zu Blutwurst zu verarbeiten. Im Internet veröffentlichten sie später einige Bilder die unter dem Titel „Todgeburt“ das Festmahl dokumentierten. Wäre ich der Kamerad gewesen den sie darauf um eine Blutspende baten, ich hätte auch nein gesagt. 2

In Philip K. Dicks Kurzgeschichte „Beyond lies the Wub“ verspeist, nach langer Diskussion über die Triebe des Menschen und den Mythos des Odysseus, die Mannschaft das schweinsähnliche Wobb (engl. Wub). Der einzige der beruhigt ohne Gewissensbisse die dicke Scheibe des zarten, warmen Fleisches verspeisen kann ist Captain Franco. Eine Form des rituellen Kannibalismus besagt, dass durch den Verzehr des Fleisches von Verstorbenen auch deren Kraft bzw. Eigenschaften einverleibt werden. Als Captain Franco sein Teller gelehrt hat will er dort zu erzählen fortfahren wo er aufgehört hat.

As I was saying before I was interrupted, the role of Odysseus in the myths – “

Peterson jerked up, staring.

To go an,“ the Captain said. „Odysseus, as I understand him – “ (S.33)

Aber es war nicht er der damit angefangen hatte zu erzählen, sondern das von ihm soeben verspeiste Wobb. Er war die Person von dem das Wobb erst unterbrochen wurde.

But Odysseus returns to his home.“ Peterson looked up to the portwindow, at the stars, endless stras, burning intently in the empty universe.

Finally he goes home.“

As must all creatures. The moment of seperation is a temporary period, a brief journey of the soul. It begins, it ends. The wanderer returns to land and race….“

The door opened. The wub stopped, turning ist great head.(S.31)

Captain Franco came into the room,[…].

Es kann aber auch hier auf eine gewisse Art und Weise von Autokannibalismus die Rede sein. Denn durch die Einverleibung hat der Captain die Persönlichkeit des Wobbs angenommen und ohne zu zögern verspeist er das Fleisch des ihm inne wohnenden Wesens. Spielt es eine Rolle, dass das Wobb bereits gekocht und in Scheiben geschnitten war? Scheinbar befindet sich aber auch noch in dem tot scheinenden Steak die Persönlichkeit des Wobbs.

1 Zugriff am 24.05.09 unter http://www.inidia.de/tegenaria.htm

Eintrag 6

Juni 8, 2009

Töten, um nicht getötet zu werden II

Die Indianerstämme und PKD.

 

Diese Überschrift nochmals aufzugreifen, scheint auf den ersten Blick vielleicht eine etwas einfache Lösung zu sein, allerdings gab mir Dr. Christy Turner nochmals die Möglichkeit dazu. Auch wenn seine Ergebnisse und die damit verbundene Diskussion schon einige Jahre zurückliegt, so ist sie für unseren Themenschwerpunkt von hoher Aktualität.

 

Laut krächzend fegt eine Krähe heran. Heftig schlägt sie mit den blauschwarzen Flügeln, dann findet sie Halt im schütteren Geäst eines Cottonwood-Baumes. Der Vogel verstummt. Nun ist es still im Chaco Canyon, geradezu beklemmend still. Steile, sandfarbene Tafelberge ragen in der Ferne über dem ausgedörrten Talboden empor. Ein unwirtlicher Flecken Erde. Karg, beige-grau , staubtrocken.(Lutz Raidt 2003)

Diese fast romanartige Einleitung beschreibt den Arbeitsplatz von Dr. Turner, das Wüstental im Nordwesten von New Mexiko – der Heimat des Indianerstammes der Anasazi. Sie waren die Erbauer des Pueblo Bonito, ein mächtiges Gebäude inmitten des Chaco Canyons. Überhaupt galten die Anasazi als sehr weit fortgeschritten und sehr intelligent, dabei ist hier von der Zeit 900 bis 1150 nach Christus die Rede. Dr. Christy Turner kommt im Jahre 1967 ins Spiel, als er in eben diesen Ruinen Überreste von Menschen, die offensichtlich dem kannibalischen Akt zum Opfer gefallen sind. Turner behauptet später das in einem von ihm veröffentlichten Buch „Kannibalismus wurde im amerikanischen Südwesten 400 Jahre lang intensiv praktiziert.“

Nun stellt sich natürlich die Frage, wie PKD hier ins Spiel gebracht werden sollte. Es ist nicht eindeutig geklärt, wie der Kannibalismus bei den Indianern passiert bzw. ob er überhaupt passierte. Die heftigste Kritik an Turners These liefert ebenfalls glaubhafte Argumente, die von verschiedenen Bestattungsriten berichten, bei denen, als Beispiel, nur Teile eines Menschen bestattet wurden. Auch eine ähnliche Betrachtung wie der Kannibalismus bei den Wari-Indianern in Brasilien ist zulässig. Bei diesem Stamm ist das Phänomen keineswegs negativ behaftet, im Gegenteil. Der Kannibalismus als positiver Teilabschnitt zur Wiedergeburt steht hier im Vordergrund. Dieser Aspekt lässt jeglicher „Science Fiction“ Betrachtung und Sensationsgier keinen Nährboden für Spekulationen. 

Die These, die allerdings nun den Zusammenhang mit PKD herstellt, berichtet von einer Aneignung der Macht und vor allem von einer Absicherung der Macht. Hier gilt es nochmals die Kurzgeschichte von „Beyond lies the wub“ aufzugreifen. Die Anasazi Indianer gilt es hier mit dem Wub zu vergleichen, eine durchaus intellektuell überlegene Spezies, die von einer körperlich überlegenen Spezies zu deren Erhaltung getötet und verspeist wird, um die Macht und Kontrolle zu behalten. Die Unterschiede zu PKDs Kurzgeschichte liegen darin, dass die Tötung und der Kannibalismus nicht in einem so kleinen geschlossenen gesellschaftlichen Konstrukt wie einem Raumschiff geschah, sondern in großer Form, wie bei den Azteken, wo der Kannibalismus ein Ritual war, um die soziale Kontrolle zu behalten. So will sich auch Turner verstanden wissen. Den Hinweis darauf liefern die enormen Bauwerke, die ohne jegliche technische Hilfe erbaut worden sind. Die enormen menschlichen Leistungen lassen sich dabei durch den Druck, durch Kannibalismus aufgebaut, erklären.

„Terror in Form von Kannibalismus war ihr Instrument, um die Anasazi zu versklaven und die imposanten Bauwerke im Chaco Canyon errichten zu lassen.“ (Christy Turner)

Ob die Anasazi Indianer eben dieses Schicksal ereilte, bleibt auch laut Turner ein Mythos. Die Täter und Opferrollen lassen sich hier nicht so klar beziehen, aber lässt sich das bei „Beyond lies the Wub“ denn leichter machen?

Dick, Philip K.: Beyond lies the wub,

https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/index.php?id=3868

Heinrich H., Die Kochtopf-Signatur. Zugriff am 02.06.2009 unter:

http://www.focus.de/wissen/wissenschaft/anthropologie-die-kochtopf-signatur_aid_167943.html

Reidt L., Die Opfer der Kannibalen. Zugriff am 02.06.2009 unter: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2003/0310/wissenschaft/0217/index.html

Thimm., Liebevolle Menschenfresser. Zugriff am 02.06.2009 unter: http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/dokument.html?id=20899685&top=SPIEGEL

Eintrag 5

Mai 26, 2009

„Planet Terror-Planet Blue“

Überlegungen zu „The Colony“ von Philip K. Dick

Planet Blue. „Rolling forest and hills, green slopes alive with flowers and endless vines; waterfalls and hanging moss; fruit trees, acers of flowers, lakes“  Das hier beschriebene Fleckchen Land befindet sich nicht auf der „Terra“ sondern auf einem nicht näher verorteten Planten irgendwo in den Galaxien des Philip K. Dick.

Eine Gruppe von Weltraumforschern wurde entsannt um den so perfekt scheinenden Planten aufs gründlichste auf seine Bewohnbarkeit zu untersuchen. Es finden sich „No disease germs, no lice, no flies, not rats (…)“ und man ist bereit das Signal zur Freigabe für die Kolonialisierung zu geben.  Doch plötzlich werden die Mitglieder des Teams angegriffen. Alltagsgegenstände wie ein Mikroskop, ein Handtuch oder ein Gürtel versuchen ihren Benutzern das Leben zu nehmen. Wie sich herausstellt handelt es sich um „ (…) a form of protoplasm, with infinite versatility“. Das bedeutet, dem Wesen ist es möglich die Form, Konsistenz, ja so sogar die Funktionen aller anorganischen Objekte anzunehmen. Die perfekte Tarnung, Mimicry, Simulation. Womit man wieder bei einem Lieblingsthema von Philip K. Dick wäre. Dinge die vorgeben etwas zu sein was sie nicht sind kommen in mehr als nur einem seiner Werke vor. In „The Colony“ ist dies der außerirdische Organismus, der die Form von gewöhnlichen  Gegenständen simuliert und die Menschen so in die Falle lockt ähnlich wie eine fleischfressende Pflanze:

„The door closed around him. The seat folded up over his head. The dashboard became plastic and oozed. He gasped – he was suffocating. he struggled to get out, flailing and twisting. There was  a wetness all around him, a bubbling, fowing wetness, warm like flesh.

´Gulp`. His head was covered. His body was covered. The bucket was turning to liquid. he tried do pull his hands free but they would not come. All at once he realized what the liquid was.

Acid. Digestive acid. He was in  a stomach“

(Dick, 1953, S.356)

Eine Frage die sich stellt, ist: Handelt es sich hier um Kannibalismus?

Der nahe liegenden Antwort, dass es sich nämlich bei Kannibalismus um den „Verzehr von Menschenfleisch durch Menschen“  handelt und dies offensichtlich in „The Colony“ nicht der Fall ist, kann widersprochen werden, wenn man die Situation im übertragenen Sinn sieht. So ist eine Ausprägung des Kannibalismus der Exo-Kannibalismus. Dieser Art der Anthropophagie beinhaltet das Verspeisen von besiegten Feinden als eine Demonstration der Dominanz. Der sichtlich überlegene außerirdische Organismus macht sich also über das Team von Forschern her, die durch das Eindringen in dessen natürlichen Lebensraum zu Feinden geworden sind. Beide kämpfen (die „Aliens“ offensiver und sich ihrer Lage bewusster als die Menschen) um die Vorherrschaft auf diesem Planeten. Der Organismus verteidigt sein Territorium, dass die Menschen für sich beanspruchen wollen.

Natürlich findet sich hier auch der Aspekt der Kolonialisierung. Fremde von weit her kommen in Schiffen an, bemächtigen sich des Grundes und der Ressourcen um sie für sich selbst zu nutzen und verdrängen oder ermorden die ursprünglichen Einwohner. „ It´s not our planet“ bemerkt Commander Stella Morrison ganz richtig, doch entgeht ihr die Ironie ihrer Worte, noch unwissend wem der Planet eigentlich gehört.

In diesem Zusammenhang lässt sich noch einmal der Bogen zum „Kannibalismus als Abgrenzung“ ziehen. Wie bereits im Eingangsartikel erwähnt, handelt es sich hier um eine Abgrenzungsstrategie zur Rechtfertigung des Kolonialismus. Das heißt die erobernden Mächte ließen Gerüchte verlauten die Einwohner der Gebiete, würden den Kannibalismus praktizieren, um die Notwendigkeit ihrer Anwesenheit zu betonen und so ihre Taten zu legitimieren. Wenn man sich die Ereignisse nicht allzu ferner Vergangenheit einmal betrachtet wird man feststellen, diese Vorgehensweise eine Invasion in fremde Länder zu rechtfertigen auch heute bisweilen noch gebräuchlich ist.

Ironischerweise kommt es in Dick´s Shortstory gar nicht zu einer solchen Diffamierung. Sie ist nicht nötig, denn die Geschichten erweisen sich auf Planet Blue als Realität. Die „unzivilisierten“ Ureinwohner lassen sich nicht in Reservate zurückdrängen, vielmehr verdrängen sie ihre „Eroberer“, löschen sie gar vollkommen aus.

Der Alptraum der Zivilisation bei Dick zur Realität geworden.

Abschließend lässt sich also festhalten, dass Dicks „The Colony“ zwar nicht mit aktivem Kannibalismus aufwartet, einem Hannibal Lecter wird bei der Lektüre dieses Werkes nun nicht gerade das Wasser im Mund zusammen laufen, aber es lassen sich doch Aspekte finden, die das Thema zumindest anklingen lassen.

Wer mehr möchte, sollte sich an Thomas Harris halten.

Quellen:

Dick, Philip K., The Colony, https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/view.php?id=53540

Müller, Rebecca, Das traurige Maiskorn, oder Kannibalismus aus Mitleid, in:

HYPERLINK „http://www.ethmundo.de/index.php“ http://www.ethmundo.de/index.php

option=com_content&task=view&id=30&Itemid=75, zugeriffen am 8.5.2009

Dick, Philip K., The Colony, 1953  HYPERLINK „https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/view.php?id=53540“ https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/view.php?id=53540, S.  347

Dick, 1953, S. 347

Dick, 1953, S. 357

Dick, 1953, S. 356

Dick, 1953, S. 349

Eintrag 4

Mai 25, 2009

Beyond lies the wub // zweite  Auseinandersetzung//

Kannibalismus: Töten um nicht getötet zu werden

Kannibalismus als die totale Eliminierung des Feindes.

<<“It is interesting“, the wub said, “that you are obsessed with the idea of eating me. I wonder why.” >>  (Dick 1952 :31)

PKD greift in seiner Erzählung einen Vergleich auf, der vor allem durch die von uns Menschen hervorgerufenen Schimpfwörtern lebt und in unserer Gedankenwelt sobald „the Wub“ als Schwein deklariert ist, ein gewisses Vorurteil mit sich bringt. Jeder hat nun ein eigenes Bild im Kopf wie dieses große Schwein denn aussieht und für jeden ist der Gedankengang des Kapitäns nachvollziehbar, der dieses Schwein nur mit der logischen Nahrungsaufnahme in Verbindung bringt. Doch genau hier möchten wir ansetzen, wie logisch ist diese Nahrungsaufnahme?

Bei PKD wird diese Logik schnell durchbrochen, das Schwein beginnt zu sprechen, zu philosophieren und zu erzählen, es erklärt sogar, dass seine Rasse streng katholisch sei. All diese Dinge machen eine logische Abfolge der Dinge doch unmöglich, der sonntägliche Schweinsbraten, die tägliche Pizza mit Schinken, all diese Nahrungsmittel jetzt nur auf das Schwein bezogen, würden doch eine ganz neue Sichtweise erhalten, wenn im Tier, welches hinter (den meisten) Nahrungsmitteln steckt, plötzlich etwas mehr Mensch stecken würde.

Gemäß dem Fall, es würde so sein wie in der Geschichte von PKD, wo die rasche Entscheidung über die Tötung des Schweins nur durch die akute Bedrohung von eben diesen Lebewesen getroffen wurde, so würde dies folgende Behauptung zulassen:

Wir töten und verzehren Tiere hauptsächlich zum Selbstschutz, damit keine Bedrohung entstehen kann. Das Töten würde dabei wohl noch einen „natürlichen“ Part in unserer Weltordnung einnehmen, Töten um nicht getötet zu werden. Der Verzehr, also das Einhalten der Nahrungskette, lässt nun Züge des Kannibalismus entdecken. Kannibalismus wird beschrieben als Verzehr von Artgenossen oder Teile derselben. Nun in PKD’s Kurzgeschichte trifft dies zumindest auf die geistige Ebene zu, wenn auch die körperliche natürlich große Unterschiede aufweist. Auch wenn sich am Ende der Geschichte eben dieser körperliche Unterschied aufhebt, da das Schwein im Körper des Kapitäns weiterlebt und sich bereits ausgebreitet hat.  Doch wie sieht es in der realen Welt aus? Den Verzehr eines Steaks als Kannibalismus hinzustellen, ist überzogen und auch nicht richtig, auch wird es nach dem Verzehr nicht unsere Gedankenwelt beeinflussen.

Die genannte Behauptung aber wir würden Töten, um nicht einer akuten Bedrohung ausgesetzt zu sein, beinhaltet sicherlich ein Stück Wahrheit und auch wenn es nicht den „typischen“ Vorgaben des Kannibalismus entspricht, so lässt es doch eine andere, kannibalische  Sicht der Dinge zu.

Literaturverzeichnis:

Dick, Philip K.: Beyond lies the wub, https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/index.php?id=3868

Eintrag 3

Mai 12, 2009

Beyond lies the Wub by Philip K. Dick

Die Kurzgeschichte von 1952 läßt viele Interpretationen zu. In diesem Versuch, sich einer Botschaft anzunähern, die zwischen den Zeilen liegt, soll das grob formulierte Thema Diskriminierung behandelt werden.

Betrachtet man die Rolle des Wub in dieser Geschichte, so stellt sich freilich zunächst die Frage: was ist das Wub? Ein außerirdisches Schwein und als Schwein ein Tier? Es kann sprechen. Ist es somit ein Wesen zwischen Mensch und Tier?

Auf intellektueller Ebene ist das Wub seinem Gegenspieler Captian Franco gewachsen: es verhandelt mit ihm um sein Leben, diskutiert philosophische Fragen und fordert demokratische Abstimmungen in der Crew bezüglich seines Todes.

Gleichzeitig ist das Wub im Herrschaftssystem an Board den Menschen in körperlicher Hinsicht klar unterlegen:

„We are a very old race. […] Very old and very ponderous. It is difficult for us to move around. You can appreciate anything so slow and heavy would be at the mercy of more agile forms of life. There was no use in our relying on physical defenses. How could we win? Too heavy to run, too soft to fight.“[1]

Dennoch kann das Wub als Konkurrent betrachtet werden – verfügt es doch über eine außergewöhnliche Fähigkeit: Telepathie.

Ausgangspunkt an das Thema Diskriminierung ist, dass sich Formen von Stammesfehden in hasserfüllten Abgrenzungen nach unten niederschlagen können.[2] Das Wub als intelligentes, aber schwächeres Wesen, das sich durch seine Kraft der Telepathie konkurrenzfähig macht, ist kein Mensch. Es ist andersartig und gehört in der Situation an Board einer deutlichen Minderheit an. Somit kann es als Teil einer konkurrierenden Randgruppe verstanden werden.

Zwar ist keine Form von Aggression gegen das Wub seitens der Crew aus dem Text herauslesbar, sehr wohl aber Angst vor einer möglichen Bedrohung:

„You are quite afraid, arent´t you? […] I was curious to see your ship, learn about you[…]“[3]

In diesem Kontext lässt sich die Frage stellen:  „Ist unsere Kultur der  „geheime Nährboden“ von gesellschaftlicher Inhumanität oder nicht?“[4]

Captain Franco beschließ die Erschießung des Wesens. Er rechtfertigt seine Entscheidung mit dem Mangel von Nahrungsmitteln an Board, kategorisiert das Wub als Tier:

„Back on the farm we had hogs, dirty razorback hogs. I can do.“[5]

Das Wub genießt als Tier nicht dieselben Rechte. Töten ist nur dort gestattet, wo es durch bestimmte Ordnungen legalisiert worden ist. Dagegen kann ein Tier keinen Anspruch auf Tötungshemmungen erheben. „Für viele sind nur Mitglieder des eigenen Stammes wirklich „Menschen“ und dadurch vor Tötung einigermaßen geschützt; Fremdstämmige nähern sich dem Tierstatus.“[6]

Der Begriff „Kannibalismus“ muss also in diesem Kontext näher eingegrenzt werden. Kann man in diesem Fall von Kannibalismus sprechen, so handelt es sich um eine Form des „Exokannibalismus“, also das Verspeisen von Angehörigen eines fremden Stammes.[7]

Literaturverzeichnis:

Dick, Philip K.: Beyond lies the wub, https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/index.php?id=3868

Brückner, Peter: Sozialpsychologie des Kapitalismus; Psychosozial-Verlag, Gießen 2004

http://http://www.duden.de/definition/exokannibalismus; Zugriff am: 10.05.2009


[1] Dick, Philip K.: Beyond lies the wub, https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/index.php?id=3868, S. 30

[2] Brückner, Peter: Sozialpsychologie des Kapitalismus; Psychosozial-Verlag, Gießen 2004, S.129

[3] Dick, Philip K.: Beyond lies the wub, https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/index.php?id=3868, S.32

[4] Vgl. Brückner, Peter: Sozialpsychologie des Kapitalismus; Psychosozial-Verlag, Gießen 2004, S.22

[5] Dick, Philip K.: Beyond lies the wub, https://moodle.univie.ac.at/mod/resource/index.php?id=3868, S.33

[6]Vgl. Brückner, Peter: Sozialpsychologie des Kapitalismus; Psychosozial-Verlag, Gießen 2004, S.86

[7] http://www.duden.de/definition/exokannibalismus; Zugriff am: 10.05.2009

Eintrag 2

Mai 12, 2009

„An empty skin. The insides were gone. The important part. This was all that remained, just the brittle, cracking skin, wadded down at the bottom of the trash barrel in a little heap. This was all the father-thing had left; it had eaten the rest. Taken the insides – and his father’s place.“

Die 1954 entstandene Kurzgeschichte von Philip K. Dick „The Father-Thing“ wird aus der Sicht eines achtjährigen Jungen, Charles, erzählt. Er ist der einzige der erkennt, dass der Mann der ihm beim Abendessen gegenüber sitzt ein fremdes, bösartiges Wesen ist, das durch bloße Einverleibung des Inneren seines leiblichen Vaters dessen Platz einnehmen will. Durch die Einverleibung des Körpers, den Akt des Verzehrens, übernimmt das Ding nicht nur die fleischlichen Innereien, sondern das  gesamte Wesen des Vaters. Es lernt schnell seine neue Persönlichkeit zu vervollständigen und nimmt immer mehr spezifische Eigenschaften an. Der rituelle Kannibalismus, wie er etwa von bestimmten Stämmen Indonesiens, Papua Neuguineas, Neuseelands oder Australiens praktiziert wurde, bezweckt stets das Einverleiben der Eigenschaften des Toten. Der Verzehr beschreibt eine Art von Bestattung, durch den einerseits die Kräfte des Verstorbenen aufgenommen werden und andererseits seine Wiederkehr verhindert wird. Das Vater-Ding verhindert ebenfalls die Wiederkehr des Vaters in die irdische Welt, wobei die Art der Aufnahme des Innersten hier keineswegs subtil von statten geht. Es handelt sich dabei nicht um Einverleibung die rein auf geistiger Ebene, sonder ganzheitlich passiert. Das Ding wird zum Vater-Ding; nicht nur seine mentalen Eigenschaften gleichen dem Original sondern auch sein äußeres Bild.

Der kannibalische Akt dient hier aber nicht nur der Einverleibung, sondern auch dem Stillen des Hungers. Als Charles im Bambus Schutz vor dem ihn verfolgenden Vater-Ding sucht, stößt er auf eine aus einem Dreckhügel herauswachsende Gestalt, die feucht im Mondlicht glänzend, einen modrigen Kokon darstellt, in dem das Mutter-Ding schlummert. Das Vater-Ding wollte ihn genau da hin locken, denn das eben erst geschlüpfte Charles-Ding war noch schwach und brauchte Nahrung um zu Kräften zu kommen. Der hier stattfindende Hunger-Kannibalismus ist geschichtlich gesehen sehr selten. In  Fällen wo der Leib des anderen die einzige Möglichkeit darstellt der Hungersnot zu entfliehen, wie es etwa bei der Belagerung von St.Petersburg durch die Deutschen im 2.WK der Fall war, wird Kannibalismus jedoch eher akzeptiert.

Eine weitere Art von Kannibalismus die Christian Spiel in seinem Buch „Menschen essen Menschen-Die Welt der Kannibalen“ unterscheidet ist die mythisch begründete. Viele Mythen schildern eine Weltschöpfung durch Kannibalismus. Wollen diese kannibalischen Dinger eine neue Welt gründen, wollen sie die Weltherrschaft an sich reißen? Bei „The Father-Thing“ handelt es sich, im Gegensatz zu vielen anderen PKD Texten, nicht um eine Invasion der Gesellschaft, sondern um eine Invasion der Familie. Es wird bis zum Ende der Kurzgeschichte nicht klar ob die von einem metallischen Käfer mit Energie gespeisten Dinger tatsächlich nur die Familie Walten einnehmen wollen, oder ob andere Familien ebenfalls betroffen sind. Wir wissen auch nicht, ob nicht die Welt bereits von diesen ferngesteuerten Wesen regiert wird, geschweige denn was sie mit ihrer Invasion bezwecken wollen. Die Familie steht für eine Welt in der das Menschliche ausgelöscht werden soll, und durch Einverleibung von etwas Außerirdischem ersetzt wird. Hier sind es die Kinder die sich nicht täuschen lassen und die Wahrheit erkennen. PKD behandelt ein in den 50er Jahren sehr aktuelles Thema, das bei einem großen Teil der Bevölkerung Angst und oft Zustände von Paranoia hervorrief: Sind die Menschen wirklich das was sie vorgeben zu sein, oder verstecken sie hinter ihrer Hülle ein fremdes Wesen.

Quellen:

Dick, Philip K., The Father-Thing. In: Ders., The Philip K. Dick Reader. New York: 1987, S.101-110.

Arens, W., The man-eating myth. Antropology and Antropophagy. New York: 1979.

Saimeh, N., Zum Fressen gern–Kannibalismus aus psychiatrischer Sicht. Zugriff am 06.05.2009 unter http://www.3sat.de/delta/pdf/saimeh.pdf.

Einleitung: Vorüberlegungen zum Kannibalismus

April 29, 2009

Dieser Blog beschäftigt sich mit dem Aspekt des Kannibalismus im literarischen Werk von Philip K. Dick, und bevor wir uns inhaltlich mit dieser Literatur auseinander setzen, erachte ich es für sinnvoll, zuerst ein paar Vorüberlegungen zum Kannibalismus allgemein zu äußern. Auf diese Weise können wir eine Fragestellung erarbeiten, deren Beantwortung oder auch nur Bearbeitung uns im Hinblick auf die eigentliche Aufgabe hilfreich sein kann.

Meine Sichtweise auf Kannibalismus ist die, dass es sich dabei um ein kulturelles Phänomen handelt, das primär auch in dieser Hinsicht untersucht werden sollte. Zum einen ist der Akt des Kannibalismus schon kaum abzugrenzen von seinem kulturellen Umfeld. Freud geht sogar soweit,  ihn als den Ursprung der Kultur zu bezeichnen und dessen Tabu als „organisierendes Zentrum von deren symbolischer Ordnung“ (Fulda 2001, S. 8). Zum anderen war und ist Kannibalismus aber auch in der Literatur und anderen kulturellen Erzeugnissen als Motiv und Metapher präsent. Er ist sowohl in Werken der Weltliteratur von Homer bis Thomas Mann zu finden (vgl. Fulda 2001, S. 7), als auch in Werken der Populärliteratur (z.B. Thomas Harris‘ Hannibal-Romane) und in anderen Medien wie Film (eine umfangreiche, aber dennoch unvollständige Filmografie ist zu finden bei: Krützen 2001, S. 516 – 531), Musik, Comic, etc.

Meiner Ansicht nach kann man den Themenkomplex Kannibalismus in die Analyse-Bereiche „Abgrenzung“ und „Entgrenzung“ einteilen.

Abgrenzung
Der Begriff „Kannibalismus“ kennt keinen Gegenbegriff, bzw. dieser lässt sich nur durch Negation herstellen. Der „Nicht-Kannibalismus“ ist also die Beschreibung eines „Normalzustands“, der keiner eigenen Begrifflichkeit bedarf. Der Begriff „Kannibalismus“ wird somit zum Abgrenzungs- und Abnormitätsbegriff, eine Bezeichnung für „das Andere“.
In der Tat gibt es seit William Arens These von der Unglaubwürdigkeit von Berichten über Anthropophagie bei exotischen Völkern in der Ethnologie die Ansicht, Kannibalismus sei weniger kulturelle Praxis denn eine abendländische Vorstellung, die als Ausgrenzungsstrategie dient, um den Kolonialismus zu rechtfertigen (vgl. Fulda 2001, S. 9ff.). In diesem Fall dient der Kannibalismus also als Abgrenzung eines nicht-kannibalistischen, „zivilisierten“ Kulturkreises von einem vermeintlich kannibalistischen, „primitiven“ Kulturkreis (unter den Begrifflichkeiten des Kolonialismus gibt es noch eine Vielzahl weiterer solcher Abgrenzungsbegriffe wie „Primitive“, „Wilde“, „Neger“ und ähnliches). Aber auch innerhalb eines nicht-kannibalistischen Kulturkreises wird der Begriff zur Abgrenzung von als abnorm wahrgenommenen Individuen verwendet. Wer Kannibalismus praktiziert, verletzt die gesellschaftliche Ordnung und wird mit Sanktionen belegt. Er wird aus der gesellschaftlichen Mitte herausgenommen, geächtet und getreu dem Credo „Wer Menschen ißt, ist kein Mensch“ geradezu „entmenschlicht“.

Entgrenzung
Kannibalismus ist ein Akt des Einverleibens. Der Körper des Einverleibten geht in den Körper des Kannibalen über. Dadurch geht ein Besitzwechsel vonstatten. Der einverleibte Körper geht in den Besitz des Kannibalen über und wird durch dessen Körper verwertet.
Dieser simple Prozess der Nahrungsaufnahme geht mit kulturellen Vorstellungen von Einverleibung einher, die sich auch jenseits des Körperlichen bewegen. So werden Nahrungsmitteln nicht nur Effekte auf den Körper (und Geist) des Essenden zugeschrieben, die sich allein durch ihre stoffliche Zusammensetzung erklären lassen.
Jede Nahrung hat natürlich einen nachweisbaren (positiven oder negativen) Effekt auf den Körper. Vitamin C hat u.a. eine antioxidative Wirkung, Zucker eine schädigende Wirkung auf den Zahnschmelz. Aber unabhängig davon kommt es im kulturellen Zusammenhang auch zu Überhöhungen oder Verschiebungen in Hinblick auf die tatsächlich messbaren Wirkungen von Nahrungsmitteln und deren Bestandteilen. So wird Spinat üblicherweise mit Stärke assoziiert (ob das nun mit falsch überlieferten Daten der Zusammensetzung oder dem kulturellen Einfluss Popeyes geschuldet ist, sei einmal dahingestellt) und zwar in einem wissenschaftlich nicht belegbaren, also kulturell überhöhten Maße. Auch kommen von Zeit zu Zeit immer wieder Diäten in Mode, die ein bestimmtes Nahrungsmittel als „Wundermittel“ in Hinblick auf deren Wirkung erhöhen. Nahrung hat also auch eine kulturelle, geistige Komponente.
Roland Barthes führt dies in seinem Werk „Mythen des Alltags“ anhand des Beefstaeks näher aus. Er schreibt: „wer es zu sich nimmt, assimiliert die Kräfte des Rindes“. (Barthes 1964, S. 36) Das Einverleiben eines Lebewesens geht also in der kulturellen Vorstellung mit der Einverleibung gewisser Eigenschaften von diesem einher.
Dies gilt in besonderer Weise auch für den Verzehr von menschlichen Körperteilen, wobei gerade auch hier die Symbolkraft, die diesen innewohnt zu beachten ist: Das Herz symbolisiert den Mut des Menschen, das Gehirn dessen Intellekt. Das Gehirn hat auch die Kontrolle über den Körper. Deshalb kann man gerade beim Verzehr des Gehirns die Dimensionen des Kontrollwechsels betrachten: Kontrollverlust über den Körper beim Opfer, Kontrollgewinn beim Kannibalen.

Dies soll vorerst als kleiner Abriss über meine Gedanken zu den kulturellen Dimensionen des Kannibalismus genügen. Im Hinblick auf unsere Aufgabe, den Kannibalismus bei Philip K. Dick zu untersuchen, halte ich also folgende Fragestellung für sinnvoll: Inwiefern lassen sich Phänomene von Abgrenzung und Entgrenzung in Hinblick auf Kannibalismus finden, und wie äußern sich diese im Speziellen?

Andreas Fecher

Barthes, R. (1964). Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Fulda, D. (2001). Einleitung: Unbehagen in der Kultur, Behagen an der Unkultur. Ästhetische und wissenschaftliche Faszination der Anthropophagie. In: Fulda D. (Hg.). Das Andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur (S. 7-50). Freiburg im Breisgau: Rombach.

Krützen, M. (2001). „I’m having an old friend for dinner“. Ein Menschenfresser im Klassischen Hollywoodkino. In: Fulda D. (Hg.). Das Andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur (S. 483-531). Freiburg im Breisgau: Rombach.